In Gustav Mahlers Liederzyklus „Das Lied von der Erde“ scheinen Melodien längst vergangener Trauer überliefert worden zu sein.

„Es ist wohl das Persönlichste, was ich bis jetzt gemacht habe.“ Das schrieb Gustav Mahler seinem Freund Bruno Walter im Jahr 1908. Das Stück, von dem er sprach, war „Das Lied von der Erde“, ein wirklich wundersames und verzauberndes Werk. Geschrieben hat er es im Jahr des Todes seiner Tochter und in dem Jahr, in dem er die Diagnose zu jener Krankheit bekam, die ihn wenige Jahre später umbringen sollte. Lauscht man dem Stück, so scheint Mahlers innerste Gefühle konserviert worden zu sein, so dass sie mehr als ein Jahrhundert danach immer noch bemerkbar sind.

Ferdinand von Bothmer

Trinklied und Trauer

Bemerkenswert ist, wie sehr Text und Melodie sich in diesem Werk gegenseitig ergänzen und vervollständigen. Das fängt schon beim 1. Satz an, einem Trinklied, gesungen von einem der Gaststars dieses „Freistil“-Konzerts beim Augsburger Mozartfest 2023, Tenor Ferdinand von Bothmer. Der Einstieg in den Satz ist schwungvoll und freudig, zugleich aber auch warnend und geheimnisvoll. Der Text drückt tiefe Melancholie aus, wiederholt heißt es da: „Dunkel ist das Leben, ist der Tod!“, ein Satz, dem gerade im biografischen Kontext Mahlers eine ganz eigene Bedeutung zukommt.

Musik und Text ergänzen sich

Das Stück fährt ähnlich melancholisch fort, im Satz „Der Einsame im Herbst“ kommt sogar etwas Trauerndes hinzu. Langsame und ruhige Töne prägen diesen Teil, in dem in aller Ruhe der Bariton Thomas E. Bauer eine Beschreibung eines Sees wiedergibt: „Herbstnebel wallen bläulich überm See / Vom Reif bezogen stehen alle Gräser […] / Der süße Duft der Blumen ist verflogen / Ein kalter Wind beugt ihre Stengel nieder.“ Auch zeigt sich deutlich: Musik und Text bilden eine enge Einheit.

Thomas E. Bauer

Kontrast durch Fröhlichkeit

Im Gegensatz dazu ist „Von der Jugend“ überraschend hoffnungsvoll und fröhlich. Geschildert wird dort das glückliche Zusammensein einer Freundesgruppe, sie „trinken, plaudern“. Heiter stimmt die Flöte eine frühlingshafte Melodie an, begleitet von Streichern, die eine Leichtigkeit erzeugen, die auch im 4. Satz weitergeht. Dort beginnt der Einstieg ebenfalls mit der Querflöte, die Liebe wird zum Thema: „Und die schönste von den Jungfrauen / Sendet lange Blicke ihm der Sehnsucht zu“. Der Frühling scheint eingekehrt.

Wilder wird es, als das „jungfrische Volk“ auf Pferden einzutreffen scheint, Trommeln begleiten die nun treibenden und weniger zärtlichen Melodien. Doch auch hier scheint wieder die Melancholie vom Anfang durchzukommen, denn die Liebe scheint doch ungewiss.

Im Zentrum: Mensch und Natur

Interessant ist, dass im gesamten Stück ein zentrales Thema der Romantik wiederzufinden ist: der Mensch in der Natur. Kein einziges Mal im Stück kommt es vor, dass die Natur beschrieben wird, ohne nicht auch noch zu erwähnen, dass der Mensch in irgendeiner Weise eine Rolle darin spielt. Vom „Einsamen im Herbst“ bis zur ausgelassenen Jugend im Frühling stellt die Natur auch immer das Innenleben der Protagonisten dar. Das Gefühlvolle wird betont, ebenfalls typisch für die Epoche.

Im Satz „Der Trunkene im Frühling“ flucht der Mensch, der Trunkene, sogar über die Natur: „Was geht mich denn der Frühling an!? Lasst mich betrunken sein!“, heißt es da. Zugleich stellt der 5. Satz auch den Übergang vom Fröhlichen zu einer erneuten Melancholie dar. Während der Trunkene in einem Moment sich noch ausgelassen an seinem Rausch erfreut, wird er zugleich auch immer wieder traurig und bedauernd. So wird das Thema des 1. Satzes wieder aufgegriffen, was den Übergang gekonnt abschließt.

Hörbare Dunkelheit und hoffnungsvolles Ende

Der letzte Satz „Der Abschied“ ist Abschluss dieses facettenreichen Stückes. Der Einstieg hier ist schwer und melodisch tief. Die im Text beschriebene Dunkelheit scheint geradezu hörbar. Wenn im Text ein Bächlein durch das Tal fließt, trällert die Querflöte. Wenn die Vögel im Morgenlicht zu zwitschern beginnen, singt hier die Klarinette. Orchester und Sänger schaffen es, die Mondnacht auf die Bühne zu holen.

Das Stück endet ruhig und still, harmonisch und gelassen. Aller Streit und alles Warnende vom Anfang scheinen abgeschlossen. Die Stimme des Sängers wird auch leiser und zurückhaltender: „Die liebe Erde allüberall / Blüht auf im Lenz und grünt“, wird dort gesungen – ein überraschend hoffnungsvolles Ende.